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Nicht-Krankheiten
haben Hochkonjunktur-Konjunktur
Die
Medizin greift nach dem Altern, der Einsamkeit und Dummheit
von
Ulrike Röper
LONDON
– Das renommierte British Medical Journal (BMJ)
stellte jüngst die verblüffende Frage: „Was ist eine ‘Nicht-Krankheit’“?
Das Echo schallte weit, und die Fragesteller wunderten sich
über die immer länger werdende Liste von Vorschlägen. Altern,
Arbeit und Langeweile waren die Spitzenreiter der „Nicht-Krankheiten“,
auch wenn ein Großteil der Bevölkerung durchaus daran krankt.
Am
Anfang stand eine eigene BMJ-Definition von Nicht-Krankheit:
„Ein Zustand oder Problem, das manche als medizinisch
relevant einschätzen; bei dem Betroffenen aber vielleicht besser
darüber hinwegkommen, wenn dem Ganzen medizinischerseits keine
Aufmerksamkeit geschenkt wird.“. Sofort erhob sich die
Kritik, dass mit einer derartigen Klassifizierung individuelles
Leiden übergangen werde. Denn was für den einen normal ist,
kann für den anderen Krankheit bedeuten. Das sei unbestritten,
erwiderten die BMJ-Verantwortlichlichen, solle aber diesmal
außen vor bleiben.
Sorgfältig
entwarf man eine Liste von Nicht-Krankheiten und kam mit Hilfe
des wissenschaftlichen Beirats schnell auf 100 Nennungen. Diese
wurden ins Internet gestellt und von den zahlreichen Teilnehmern
rasch auf annähernd 200 erweitert.
Unter
den 20 am häufigsten nominierten Nicht-Krankheiten befinden
sich neben den drei bereits Genannten: Tränensäcke, Dummheit,
Glatze, Sommersprossen, große Ohren, graue/weiße Haar, Hässlichkeit,
Geburt, Allergie aufs 21. Jahrhundert, Jet lag, Unglücklich-Sein,
Zellulite, Kater, Angst, einen zu kleinen Penis zu haben, Schwangerschaft,
Wutanfälle beim Autofahren, Einsamkeit.
Längst
haben wir uns von der Vorstellung gelöst, Krankheiten wie Pflanzen
spezifizieren zu können. Krankheitsbeeinflussende soziale und
psychische Faktoren werden selbstverständlich in der WHO-Definition
von Krankheit berücksichtigt – eine Definition, die den
Chirurgen und Autor Imre Loeffler zu der Bemerkung veranlasste,
vollständiges physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden
lasse sich nur während des Orgasmus erreichen. Dass Krankheit
jedoch – nicht nur für Ärzte, Krankenkassen, Gesundheitssystem
und Pharmaindustrie – viele Vorteile bringt und dass Kinder
schon im zarten Alter lernen, sich mit Kopfweh dem lästigen
Schulalltag zu entziehen, fließt bisher noch nicht in die Begriffsbestimmung
ein.
Bereits
1979 hatte sich übrigens eine Studie dem schwierigen Problem
„Was ist eine Krankheit?“ gewidmet. Befragt wurden
Haus- und Klinikärzte, aber auch Nicht-Mediziner. Das Ergebnis
verblüffte: Während man sich bei Malaria und Tuberkulose noch
weitgehend einig war, drifteten die Antworten schon bei Asthma,
Schizophrenie und Depression weit auseinander. Depression schätzten
gerade mal 20 Prozent der Nicht-Mediziner und zwei Drittel der
Hausärzte als Krankheit ein.
BMJ
324 (2002) 883–885.
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