zum
Index
Polypill
zur Herzinfakt Prophylaxe: Diskussionspapier zu
„a
strategy to reduce cardiovascular disease by more than 80%“
aus
dem British Medical Journal vom 28.Juni 2003
von
Dr. med. Karl-Heinz Bayer
Der Artikel von Wald und Law
ist hervorragend geeignet, einen Trend darzustellen.
Zunehmend werden therapeutische
Maßnahmen die geknüpft sind an die Verordnung spezieller Medikamente
in einer Art und Weise dargestellt, als sei diese Therapie „state
of art“ oder hätte den Charakter einer Leitlinie. Oft
werden dabei Rechnungen vorgenommen, denen jede mathematischen
Basis fehlt. Das Strategiepapier, kritisch gelesen, kann beispielhaft
verwendet werden, um Arbeiten, die sich selbst Leitliniencharakter
zuschreiben in der Arbeit in Qualitätszirkeln und Diskussionsrunden
zu hinterfragen.
Der
Artikel von Wald und Law
„a strategy to reduce cardiovascular disease by more
than 80%“ aus dem BMJ vom 28.Juni 2003 zeigt so deutlich
wie kaum ein anderer Artikel zuvor, daß es offenbar zwei Arten
von kardialer Prävention gibt. Die Autoren haben eine hypothetische
Pille erdacht, die aus 6 Komponenten besteht, einem Statin,
einem ACE-Hemmer, einem Thiazid, einem ß-Blocker, ASS und Folsäure.
Mit
dieser Kreation, die sie „Polypill“ nennen, rechnen
sie vor 80% aller kardialen Ereignisse und gar 86% aller Schlaganfälle
verhindern zu können.
Voraussetzung sei, daß alle Risikopatienten und alle über 55-Jährigen
sie einnehmen. Nützen, so sagen sie, könnte sie vielleicht auch
AVK-Patienten, Diabetikern und Menschen mit TIA und Angina pectoris.
Von
der täglichen Einnahme dieser Pille würden 1/3 der Patienten
direkt profitieren und im Durchschnitt sollten 11 infarktfreie
Jahre zu gewinnen sein. Je älter die Patienten seien, desto
größer sei der Nutzen der Therapie. Die Methode wäre, wie es
scheint, sicher und keine andere Methode in der westlichen Welt
könnte auf dem Feld der Gesundheitsvorsorge einen größeren Einfluß
haben. Auch zu den Nebenwirkungen äußern sich die Autoren und
taxieren sie mit maximal 10% als so gering ein, daß der Gesamtnutzen
für die Population nicht wesentlich geschmälert wäre. Wie es
heißt ist, sei ein Patent auf die Polypill bereits angemeldet
und laut STERN-online würden sich die Tageskosten auf
1.55 Euro belaufen.
So
unschlagbar gut die Therapieerfolge vorgerechnet werden, so
radikal soll auch der Weg dorthin verfolgt werden.
Die
Dogmen, die Wald und Law aufstellen, sollte man mit Aufmerksamkeit
lesen:
- Aus der Erkenntnis, daß viele Studien keinen Unterschied fanden
in der kardioprotektiven Cholesterinsenkung, wenn hohe oder
niedrige Blutdrucke vorlagen oder wenn ASS genommen wurde
oder nicht, schließen die Autoren, daß es unerheblich ist
klinische Parameter zu messen. Individuelle Schwankungen
solcher Messungen könnten eher geeignet sein, das Gesamtergebnis
zu verschleiern.
- Bei der Überwachung von Nebenwirkungen könnte im schlimmsten
Fall die Beendigung der Therapie einen Wiederanstieg der koronaren
Ereignisse hervorrufen, der den Nutzen übersteigen würde.
- Es
sei Zeit, daß man davon abgehe, individuell die Risikofaktoren
zu bestimmen und danach die Behandlung auszurichten. Der westliche
Lebensstil bedrohe uns alle mit hohen kardialen Risiken. Mit
der Polypill sei deshalb viel zu gewinnen und wenig zu verlieren.
Allein die konsequente Einnahme zähle.
Wald
und Law malen ein düsteres Bild der konventionellen Prävention.
Diese
sei faktisch gescheitert. Kardiovaskuläre Erkrankungen könnten
zwar verhindert werden, aber die notwendigen Änderungen der
Diät und Lebensweise in unserer westlichen Welt seien in kurzer
Zeit nicht machbar. So sei auch die Trennung der zu behandelnden
Menschen in Männer und Frauen, in Raucher und Nichtraucher zu
teuer und zu aufwendig und würde wenig weitere Erkennnisse liefern.
Pauschal solle stattdessen die Polypill eingenommen werden von
allen, die davon profitieren könnten, und grundsätzlich von
allen über 55-Jährigen, denn im Gegensatz zum Rauchen oder zur
Prävalenz der Risiken bei Männern, akzeptieren Wald und Law
lediglich das Alter als Faktor, mit der Begründung, daß 96%
aller Ischiämietodesfälle nach dem 55.Lebensjahr eintreten.
So
grundsätzlich hat bislang noch keine Veröffentlichung brechen
wollen mit der konventionellen Prävention kardialer Ereignisse,
die sich auf Rauchverzicht, Bewegung und Gewichtsreduktion bezieht.
So radikal hat aber auch noch keine Veröffentlichung dem Verzicht
auf individuelle und an Normalwerten orientierte Therapien das
Wort geredet.
Wald
und Law brechen auch mit der gängigen Vorstellung, daß sich
in Kombinationspräparaten die Nebenwirkungen potenzieren.
Sie
behaupten, eine Kombinationsbehandlung würde größeren Erfolg
haben und weniger Nebenwirkung als der Einsatz von nur einem
oder zwei Stoffen. Der Weg zur überwiegenden Verordnung von
Monosubstanzen in Deutschland allerdings war ein Resultat der
zunehmenden Neben- und Wechselwirkungen, je mehr Stoffe in einer
Tablette enthalten sind. Neuland wäre auch die Kombination von
3 Stoffen, die bislang überwiegend präventiv benutzt wurden
mit 3 potenten kurativen Therapeutika. Der Verzicht schließlich
auf jegliche Messung individueller Parameter und auf eine Überwachung
der Nebenwirkungen, wäre eine Medizin unter alleiniger Beachtung
der Risikoentwicklung in der Gesamtpopulation, eine Kollektivmedizin,
und würde die Individualmedizin ausschließen.
Hier
wird der Versuch gemacht, auf dem Boden einer pessimistischen
Analyse eine Pauschallösung zu bieten, die 80% des verlorenen
Terrains zurückgewinnen soll. Selbst wenn Wald und Law recht
hätten, dieser Weg wäre eine Kapitulation. Ihn überhaupt in
Betracht zu ziehen ist schädlich für die Motivationsarbeit,
die hinter der echten Prävention steckt.
Die
auf den ersten Blick verblüffende Strategie weist zudem eine
Ungereimtheit nach der anderen auf. Daß eine Kombinationspille
weniger Nebenwirkungen aufweisen soll als die Einzelstoffe,
ist eine unbewiesene Behauptung, die den gängigen Erfahrungen
widerspricht. Die Auswahl der 6 Stoffe ist willkürlich, Wald
und Law meinen sogar, dass andere (Calcium-Antagonisten und
Angiotensin-II-Blocker) weniger Nebenwirkungen haben würden.
Dabei ist auch die Schätzung, dass sich die Nebenwirkungen auf
15% beziffern lassen, spekulativ.
Wenn
eine simple Abschätzungen der Nebenwirkungen reichten, könnte
der Pharmamarkt auf klinische Studien verzichten.
Es
wird behauptet, es sei gleich, auf welche Weise ein Risikoparameter
gesenkt wird. Wenn dem so wäre gäbe es keine Mittel erster,
zweiter oder dritter Wahl.
Mathematisch-statistisch begehen Wald und Law denselben Fehler,
den die meisten der jüngeren Lipidstudien machen, indem sie
das relative Risiko angeben. Offenbar ohne es wahrzunehmen,
schreiben sie an einer Stelle, das kardiovaskuläre Todesrisiko
bei den Patienten mit einem bereits durchgemachten Herzinfarkt
betrage etwa 5%, und geben trotzdem an, die Risikominderung
bewege sich für die Statinbehandlung bei 61%.
Da
5% bereits die Schwelle der Irrtumswahrscheinlichkeit sind,
ist jede Angabe von Bruchteilen davon wertlos.
Ein
weiterer Irrtum ist die Aussage, die über 55-Jährigen würden
durchweg profitieren, weil 96% aller Infarkte sich jenseits
dieses Alters abspielen. Alle Studien zum Thema Lipidsenkung
in höherem Alter haben gezeigt, dass eine Statinversorgung jenseits
des 55. Lebensjahrs keinen kardioprotektiven Nutzen bringt und
im Gegenteil gefährlich ist.
Während diese handwerklichen Fehler im Umgang mit Zahlen leider
immer öfter begangen werden, haben Wald und Law mit der Addition
des Nutzens der einzelnen Bestandteile ihrer Polypill es geschafft
eine neue Form des Falschrechnens zu erzeugen.
Am
einfachsten kann man dies zeigen am Vergleich mit dem Versuch,
alle Schweden zu erfassen: 50% der Schweden sind Männer. Zieht
man die von hundert ab, bleiben 50% übrig. 50% sind blauäugig.
Zieht man auch die Blauäugigen ab, bleiben noch 25%. Wenn man
von denen die 50% blonden Schweden abzieht kommt man exakt zum
Rest der 12.5% dunkelhaariger, braunäugiger Frauen.
Das
Modell von Wald und Law ist mathematisch unsolide. Seine Umsetzung
wäre die Abschaffung der Individualmedizin. Die Idee, einen
Paradigmenwechsel von der einzig wahren Prävention weg einzuschlagen,
ist ein medizinischer Rückschlag ohne Beispiel. Der einzige
wirkliche Nutzen, den man aus der Studie ziehen mag ist der,
dass sie uns einen Eulenspiegel vorhält, wie sehr wir uns schon
auf einem falschen Weg in eine falsche Art der Prävention befinden.
Offenburg, September 2003
Dr.
Karlheinz Bayer
|