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Überlegungen
zur evidenzbasierten Medizin (EbM) im Hinblick auf ihre Eignung
als Werkzeug, um die bisherige Medizin zu reformieren
von Karl-Heinz
Bayer
Allgemeinarzt und Chirotherapeut
„Evidenzbasierte Medizin“
ist zunächst nur ein Begriff, allerdings einer, der schon durch
seinen Namen hohe Erwartungen weckt, seitdem eine Publikation
aus 1996 die von Sackett begründete Idee in die medizinische
Öffentlichkeit gebracht hat[i]).
Die evidenzbasierte Medizin (EbM) war von Beginn an umstritten
und wird sowohl in der Fachpresse[ii])
[iii]wie in der Laienpresse[iv])
kontrovers diskutiert.
Die Zielsetzung der EbM hat
sich gewandelt. War EbM ursprünglich eine Technik zur Aufdeckung
medikamentöser Risiken und Nebenwirkungen, wird inzwischen mehr
und mehr versucht, sie als Instrument zu benutzen, mit dem die
Medizin schlechthin reformiert werden soll[v]).
Was steckt hinter dem Begriff EbM?
Die
zusammengesetzten Begriffe „evidenzbasiert“ oder
„evidence-based“ sind im Deutschen wie im Englischen
nicht exakt definierte Kunstwörter. Der Begriff "Evidenz-basierte-Medizin"
scheint selbsterklärend zu sein. „Evident“ besagt,
daß etwas „augenscheinlich“ ist. Durch das
Attribut "basiert" wird das Vorhandensein eines Fundaments
suggeriert. Es handelt sich jedoch um eine Übersetzung des amerikanischen
Ausdrucks evidence-based medicine, und im Amerikanischen
heißt „augenscheinlich“ „obvious", während
das Wort „evidence“ mit „(offenliegender)
Beweis“ übersetzt werden muß. Es ist fraglich, ob es eine
bewiesene Medizin, oder eine Therapie auf der Basis unumstößlicher
Wahrheiten überhaupt geben kann.
Selbst
der Begriff "Medizin" ist im Grunde undefiniert.
Es
gibt neben der evidenzbasierten auch eine Schul- und eine alternative
Medizin und etliche weitere. Das Wort "Medizin" wird
sowohl für den gesamten "Arbeitsbereich Medizin" wie
für die "konkret verabreichte Medizin" benutzt.
Das
"Evidenz basiert sein" wird gerechtfertigt dadurch,
daß die EbM sich auf wissenschaftlichen Studien gründet.
Zudem hat die EbM alle theoretisch verwendbaren Studien in eine
Rangfolge gebracht, denen sie dann eine unterschiedliche Qualitätsstufe
zuschreibt. Nach welchen wissenschaftlichen Erkenntnissen
die Väter der EbM diese Reihenfolge festgelegt haben, ist offen.
Der
Aufbau dieser Qualitätshierarchie folgt einem methodischen Regelwerk,
das sich Good Clinical Practice (GCP) nennt. „Gute
klinische Praxis“ klingt im Deutschen, als handele es
sich um eine „gute Medizin“, „gut“ scheint
dabei wie eine Wertung. Das englische Wort „good“
wird mehr im Sinn von „dem Zweck gut angepaßt“ oder
„handwerklich-verfahrenstechnisch gut“ benutzt,
und auch „practice“ impliziert, anders als im Deutschen
nicht „Praxis“ bzw.“Praktik", sondern
ist ein Ausdruck für die verwendete Methode, die bessere Übersetzung
für "practice" heißt „Anwendung“.
Der GCP bedient sich anderer „guter Praktiken“,
nämlich der Good Manufacturing und der Good Laboratory Practice
(GMP und GLP). Schon dieses komplexere Regelwerk zeigt, daß
GCP die Richtlinien der Herstellung und Verabreichung von Medikamenten
und Medizinprodukten beschreibt.
EbM hat eine Geschichte.
Die
Gesellschaften und Firmen, die hinter dem Regelwerk stehen und
es pflegen, bestätigen diese Ausrichtung
[vi]).
Historisch sind alle „good practices“ entstanden
in der Folge des Thalidomid-Skandals, bei dem es durch
die Einnahme des Medikaments Contergan© zu
schweren Mißbildungen bei Neugeborenen kam. GCP, GMP und GLP
sollten unter dem Eindruck des Contergan-Prozesses gegen die
Firma Chemie Grünenthal von 1967-70, zu einer größeren Medikamentensicherheit
und zu einer Imageverbesserung der Pharmaproduktion führen.
Stand
bei der Beweisführung der klinischen Erprobungsstudien noch
die Erkennung auch seltener Nebenwirkungen eines Medikaments
im Vordergrund, ist es heute eher so, daß sie viel mehr der
Herausarbeitung selbst kleinster Nutzeffekte derselben Medikamente
zu dienen hat.
Zweifelsohne stellt jede Verbesserung der Medikamentensicherheit
und jede Nutzbarkeit auch kleinster positiver Effekte eine Verbesserung
der medizinischen Qualität dar, sie ist aber nicht eins zu eins
gleichsetzbar mit medizinischer Qualitätsverbesserung schlechthin.
Faktisch
hat dadurch beim Risikobegriff ein Paradigmenwechsel eingesetzt.
Während
es in der frühen Phase zwingend erschien, einen Satz zu bilden
wie den: „zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie
Ihren Arzt oder Apotheker“, sieht der Ansatz
heute eher so aus, die Risiken auf dem Feld der Krankheitsbedrohung
zu definieren, und selbst für kleinste relative Risikominderungschancen
die Empfehlung auszugeben, Medikamente einzusetzen.
Dieser
Paradigmenwechsel hat erstmals die Studienergebnisse auch einsetzbar
gemacht für Werbezwecke. Während man eine kleine Zahl von Nebenwirkungen
kaum plakativ bewerben kann, ist dies bei Minderungen auch kleinster
Gesundheitsrisiken sehr wohl der Fall.
Auch
die Vehemenz, mit der die EbM eingeführt wird und die Verwendung
der genannten Begriffe, erinnert in weiten Teilen an werbepsychologische
Strategien. Bei jeder Art von Werbung ist für den Verbraucher
von Bedeutung, wer wirbt, was beworben wird und
mit welchen Argumenten und zu welchem Zweck geworben
wird. Verbraucher und Zielgruppe der EbM sind die Therapeuten
ebenso wie die Patienten. Die Argumente verdienen eine genauere
Betrachtung.
Die
evidenzbasierte Medizin wird sehr intensiv von Sozialpolitikern
beworben. Begründet wird der Bedarf an EbM - offen oder
unterschwellig - damit, daß die bisherige Medizin insuffizient
sei und deshalb reformbedürftig. Kienle 2)
und Jachertz 3) haben im Deutschen Ärzteblatt unter
anderem die Befürchtung herausgearbeitet, daß die Methodik der
EbM geeignet ist, zwischen der sogenannten Schulmedizin und
den alternativen Therapieverfahren zu Ungunsten der Alternativen
Behandlungsmethoden angewandt zu werden.
Namentlich
im Fall der Homöopathie
wurde durch EbM-orientierte Studien versucht nachzuweisen, daß
die von Ärzten und Patienten beschriebene Wirksamkeit allein
das Ergebnis einer subjektiven Sichtweise sei. Das Studiendesign
war so ausgelegt, daß nach Beweisen gesucht wurde, daß Placeboeffekte
und Spontanheilungen therapeutisch überproportional wirksamer
sind als die Therapie selbst. Die Größenordnung des Heilerfolgs
liegt in etwa auf dem niedrigen Niveau, wie man es bei der Chemotherapie
bei vielen Krebsarten findet.
Im
Fall der Chemotherapie
geht die EbM allerdings den umgekehrten Weg, neben der Spontanheilung
und dem suggestiven Therapieerfolg wenigstens Reste einer Verbesserung
nachweisen zu können.
Im
Fall der Herzinfarktrisikosenkung durch
Lipidsenker
wurde in einigen Studien die Fragestellung sogar so sehr eingeengt
auf die Verwendung von Statinen, daß andere Strategien der Prävention
wie Rauch-Verzicht, Gewichtsreduktion, mehr Bewegung und weniger
Streß überhaupt nicht zu einem statistischen Vergleich
des Therapieerfolgs herangezogen werden, obwohl sie um Zehnerpotenzen
wirksamer sind
[vii]).
Allein
die Fragestellung einer Studie entscheidet darüber, ob
im einen Fall die Spontanheilung und der Placeboeffekt oder
im anderen Fall ein Rest-Heilerfolg sich als zentrale Aussage
im Studienergebnis wiederfinden lassen. Ein pragmatischer
Ansatz, der primär oder ausschließlich den meßbaren Therapieerfolg
im Auge hat, egal ob dieser durch die Methode selbst oder durch
einen Placeboeffekt oder durch andere (soziale, soziogene, psychogene,
suggestive, zufällige, magische usw.) Phänomene oder Ansätze
erzielt
wird,
kann in einer EbM nicht Fuß fassen. Die EbM erweist sich allein
schon durch das Nicht-in-Betrachtziehen aller anderen Therapieformen,
als Förderer medikamentenorientierter Therapien. Hierbei ist
auch die Qualitätshierarchie der Studien von großer Bedeutung,
nach der die prospektive Doppelblindstudie eine höhere „Evidenzklasse“
besitzen soll, als eine Expertenmeinung.
Was macht eine gute Studie aus?
Die
Protagonisten der EbM begründen ihre Annahme, EbM führe zu einer
besseren Medizin damit, daß alle Therapiemethoden, die Eingang
finden wollen, durch Studien abgesichert sein müssen. Es wird
die Hypothese aufgestellt, daß sich über den Weg von Studien
Leitlinien formulieren lassen, welche nach und nach
die bestehende Medizin ersetzen sollen. Die Studien
wiederum werden von der EbM Evidenzklassen unterworfen,
quasi Leitlinien für das Design von Studien.
Stufe Ia: Wenigstens
eine
Metaanalyse auf der Basis methodisch hochwertiger
randomisierter und kontrollierter Studien (RCT)
|
Stufe Ib: wenigstens
ein ausreichend großer, methodisch hochwertiger RCT
|
Stufe IIa:
wenigstens eine hochwertige Studie ohne
Randomisierung
|
Stufe IIb:
wenigstens eine hochwertige Studie eines anderen Typs,
quasi-experimenteller Studie
|
Stufe III:
mehr als eine methodisch hochwertige
nichtexperimentelle Studie
|
Stufe IV: Meinungen
und Überzeugungen von angesehenen Autoritäten (aus klinischer
Erfahrung); Expertenkomissionen; beschreibende Studien
|
Stufe V: Fallserie
oder eine oder mehrere Expertenmeinungen
|
Tabelle:
Evidenzklassen
Es
gibt jedoch keine vorgelegten Beweise, daß gute Studien auch
zu einer besseren Medizin führen, auch wenn dieser Denkansatz
einleuchtend scheint. Der einfachste und historisch oft gegangene
wissenschaftliche Beweis einer These, geht über die Formulierung
einer Gegenthese, die zu widerlegen ist. Die Gegenthese zum
Regelwerk der EbM heißt, es ist nicht möglich, über den Weg
der vorgeschlagenen Studienhierarchie eine bessere Medizin zu
erreichen. Hierzu reicht bereits eine eingehende Betrachtung
dessen, was eine gute Studie nach EbM-Definition ist.
Als
höchstwertige Art der Studie definiert die EbM die prospektive
randomisierte und kontrollierte Doppelblindstudie (randomized
controlled trial = RCT). Als niedrigste Evidenzklasse
hat die EbM die persönliche Erfahrung eingestuft.
Diese Kategorisierung geht auf Cochrane
[viii])
zurück, der sich damit Gedanken machte über die Effizienz
der Randomisierung. Cochranes Überlegungen haben sich
ursprünglich nicht mit dem Stellenwert einer Studie
oder gar mit der Frage beschäftigt, ob die Meinung von Experten
einen geringeren Wert hätte als eine randomisierte Studie, und
es gibt weltweit keine Studie, die eine Antwort gibt, warum
diese und keine andere Hierarchie richtig sein soll[ix]).
Den
RCT-Studien wurde im System der EbM das Attribut eingeräumt,
„Goldstandard“
[x]) zu sein. „Goldstandard“ ist
eine Metapher, in der wir bleiben können, wenn im Folgenden
die RCT auf ihren „Goldgehalt“ geprüft wird.
Randomisierung (
etwas dem Zufall überlassen ) scheint ein Ausweg aus der Gefahr,
daß Studien immer manipulierbar sind. Mit demokratisch empfundener
Freude schreibt Frau Hackenbroch im SPIEGEL 39/2005 4
), daß die EbM dank der multizentrischen, prospektiven und kontrollierten
Doppelblindstudien mehr Demokratie in die Medizin bringe, und
die Macht und den Einfluß der Chefärzte ("Eminenz-basierte
Medizin") einschränke. Es wird die Annahme unterstellt,
Demokratie stehe der Wissenschaft und Chefärzte der Manipulation
näher. Diese Meinung über die EbM ist weit verbreitet.
Die
Randomisierung dient in erster Linie dazu, zu Versuchsgruppen
zu kommen, die ein möglichst hohes Maß an Vergleichbarkeit besitzen,
an denen man im Weiteren unterschiedliche Therapien anwenden
kann. Dahinter verbirgt sich einerseits der Wunsch, gleiche
Ausgangsbedingungen zu bekommen, so daß die Ergebnisunterschiede
möglichst nur den Unterschieden der Therapien zuzuschreiben
sind und im Idealfall nicht durch die Vorstellungen des Untersuchers
beeinflußt werden.
Weil
aber die Randomisierung möglichst gleich geformte Vergleichsgruppen
schaffen soll, müssen im Vorfeld Patienten ausgeschlossen werden,
insbesondere solche die zu stark von der Norm abweichen. Der
Studiendesigner greift manipulierend ein, definiert Problemfälle,
die herausgenommen werden, weil sie das Studiendesign stören
würden. Die Gefahr der Künstlichkeit haftet aus diesem Grund
allen randomisierten Studien an
[xi])
[xii]).
Der Begriff „Randomisierung“ täuscht eine
Exaktheit vor, die in Wahrheit umso weniger gegeben ist, je
intensiver der Versuch unternommen wird, die Randomisierung
zu vervollständigen.
Durch
die Verwendung der doppelt blinden Studien tauchen andere
methodische Probleme auf, die vor allen Dingen die nicht-medikamentösen
Therapieformen betreffen. Während es mehr oder weniger
unproblematisch gelingt, gleich aussehende Medikamentendarreichungen
zu produzieren, mal mit und mal ohne Wirkstoff, so daß tatsächlich
weder der Patient (Blindstudie) noch Patient und Arzt (Doppeltblindstudie)
wissen, ob im vorliegenden Fall ein Wirkstoff oder ein Placebo
[xiii]gewirkt
hat, ist dies bei den nicht-medikamentösen Therapien unmöglich.
Wie sollte ein Vergleich zwischen medikamentösen und nicht-medikamentösen
Therapieformen, etwa der Vergleich zwischen Patienten die Diätmaßnahmen
bekommen und solchen, die alternativ Tabletten bekommen, sich
im Blindversuch realisieren lassen? „Doppeltblind“
ist zur Bewertung einer nicht-medikamentösen Therapien auch
deshalb ungeeignet, weil der Therapeut, als Akupunkteur, Chirotherapeut
oder Psychotherapeut, selbst einen Teil der verabreichten Medizin
darstellt, der sich aber sicherlich nicht durch ein Placebo
ersetzen ließe.
Es
stellt sich grundsätzlich die Frage, ob ein Reagenzglasdenken
der therapeutischen Wirklichkeit entsprechen kann, und ob eine
wirksame Therapie ohne Placebo für möglich und machbar (oder
für erstrebenswert) gehalten wird. Das EbM-System bietet zwar
formal-methodische Gründe an, warum der Placeboeffekt ausgeschlossen
werden soll, bleibt aber eine Erklärung schuldig, warum der
durch Placebo herbeigeführte Teil des Heilerfolgs nicht ebenso
wertvoll sein soll wie jeder denkbare andere.
„Prospektiv“
ist eine Umschreibung dafür, das Studienziel möglichst exakt
vorzugeben. Am nützlichsten kann prospektives Vorgehen
dann sein, wenn die Subjektivität in der Bewertung des
Therapieerfolgs in sehr begrenzten Einzelfragen minimiert werden
soll.
Ohne
Zweifel gibt eine retrospektive Betrachtung viel Raum für Interpretationen,
wodurch die Expertenmeinung überproportional zum Zuge kommt,
und damit die Gefahr der Manipulation. Während allerdings eine
retrospektive Studie Raum für Manipulationen bieten KANN, erfordert
die prospektive Studie , daß bereits vor Beginn gesteuert und
interpretiert werden MUSS. Die Qualität der Studie ist
deshalb genauso vom Einfluß der Experten abhängig, der einzige
Unterschied besteht darin, daß dieser Einfluß im Design versteckt
und nicht in der Analyse offensichtlich ist.
Die
prospektive Studie ist durch die eingeengte Zielvorgabe sogar
unflexibler als die retrospektive Analyse, den die ermöglicht
im positiven Sinn auch konkurrierende und alternative Interpretationen.
Überraschenderweise ist die retrospektive Analyse deshalb sogar
demokratischer als jede prospektive Studie.
Diskussion.
Wir
befinden uns bereits auf einem Weg hin zu mehr Leitlinien und
zu einem System von Therapieempfehlungen. Es ist jetzt
notwendig, geeignete Werkzeuge zu entwickeln, diese Leitlinien
zu schaffen. Es müssen Studienkonzepte erarbeitet werden, die
gleichrangige Bedingungen schaffen für die sprechende und die
nicht-medikamentösen Therapien. Wenn allein die EbM als
Maßstab herangenommen wird, werden ohne Zweifel in absehbarer
Zeit alle nicht-medikamentösen Therapiemethoden den Rang von
weniger wertvollen Therapien bekommen. Es ist nicht so,
daß die EbM dem selbst gegebenen Anspruch auf größtmögliche
Wissenschaftlichkeit gerecht wird. Das goldene Kalb der randomisierten
Doppelblindstudien darf nicht mehr unkritisch angebetet werden.
Der
Risikobegriff hat sich unter dem Einfluß der EbM auf das individuelle
Ereignisrisiko für Krankheiten fokussiert und ist abgerückt
vom Risiko, das der Einnahme von Medikamenten anhaftet. Dadurch
ist ein gänzlich neuer Präventionsbegriff entstanden, der mit
den ursprünglichen und eigentlichen Zielen der Prävention, nämlich
eine Therapie unnötig werden zu lassen, total gebrochen hat.
Als
ein extrem konsequentes Beispiel der EbM darf die von Wald und
Law ins Spiel gebrachte Diskussion über die Polypill
[xiv])
angesehen werden. In dieser Studie wird die Überlegung angestellt,
ob es durch die konsequente (100%ige) Einnahme einer Pillenmischung
möglich sei, die Risiken für Krankheiten auf ein statistisches
Minimum zu senken. Wald und Law gehen so weit, daß sie die individuelle
Beratung und Therapie im Fall der kategorischen Einnahme ihrer
Polypill für überflüssig halten.
Jede
Reform der Medizin sollte sich Gedanken machen nicht nur über
Rahmenbedingungen, wie das Design von Studien und die gegebenen
Therapieempfehlungen, sondern auch über echte Inhalte. Dazu
gehört auch der Aspekt der Therapiefreiheit, der in keinem Ansatz
der EbM formuliert ist, und es muß darum gehen, was der Patientenwille
ist. Ähnlich wie bei der Patientenverfügung, muß auch hier eine
Diskussion einsetzen. Die eher demagogische Haltung der EbM
und die autoritäre Konsequenz, Leitlinien zu formulieren, sind
geeignet, diesen Anspruch eher zu behindern.
Bad
Peterstal, Oktober 2005
Dr.Karlheinz Bayer
[1])
Sackett DL, Rosenberg WMC, Gray JAM, Haynes RB, Richardson WS.
Evidence based medicine: what it is and what it isn’t.
BMJ. 1996;312:71-72
[2])
Kienle,G. Evidenzbasierte Medizin - Konkurs der ärztlichen
Urteilskraft Dtsch Ärztebl 2003; 100:A 2142-2146
[3]
) Jachertz, Norbert Bewertung von Therapien: „Korridor
der Vernunft“ Dtsch Ärztebl 2005; 102, A-268 / B-217
/ C-204
[4])
Hackenbroch,V. Wir lernen uns zu wehren, DER SPIEGEL
39/2005 (26.9.2005) Seite 142ff.
[5
)
http://www.medizin.uni-koeln.de/kai/igmg/studien/ebm/ebm_pdf/ebm.pdf
[6])
Hönel, A. Vom soft law zur Rechtsvorschrift http://www.aventis.at/med/diplomarbeitjus.pdf
[7]
)
http://www.medizin-2000.de/streitpunkt/texte/bayer_kritik_hps.html
[8]
) Cochrane AL. Random reflections on health services: Effectiveness
and efficiency. 1971 (reprinted by RSM Press 1999).
[9]
) Anmerkung: Ich bitte um Zusendung von Literatur, sofern
meine Recherche in diesem Punkt fehlerhaft war!
[10]
) Mit dem Begriff Goldstandard taucht ein weiterer Ausdruck
auf, der vermeintlich bekannt ist, aber in Wahrheit aus einem
nicht für medizinische Studien relevanten Bereich stammt, nämlich
dem Finanzwesen. Dort beschreibt „Goldstandard“
die verschiedenen Arten der Währungsdeckung.
[11]
) Gigerenzer, Gerd (2002). Das Einmaleins der Skepsis.
Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken. Berlin: Berlin
Verlag.
[123]
) Krämer, Walter (1991). So lügt man mit Statistik. Frankfurt/M.:
Campus.
[13]
) Der „Placeboeffekt“ hat einen negativen
Beigeschmack. Allerdings gibt es wissenschaftlich angewandte
Formen des Placebo im assertiven Training, bei der Konditionierung
oder der Entwöhnung, die längst zu anerkannten Therapien geworden
sind.
[14]
)
http://www.medizin-2000.de/streitpunkt/texte/bayer_kritik_polypill.html
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